....ein Ast. Der Ast lebt in Gemeinschaft
mit einem sehr alten, knorrigen Baum. Da der Ast noch nie etwas
anderes gesehen hatte und noch wie an einem anderen Ort lebte als bei
dem alten Baum, fühlte er sich als großes Ganzes und dachte nie
daran etwas einzigartiges zu sein. Ihm fehlte es an nichts, er hatte
immer Gesellschaft, die Tiere ruhten sich gerne auf seinem Rücken
aus, er hatte immer genug Nahrung wie Sonnenschein und Wasser – es
gefiel ihm richtig gut und es hätte immer so weitergehen können.
Eines Tages sagte der alte, knorrige
Baum: „Ast, meine Zeit ist gekommen. Ich werde immer älter und
schwächer und kann nicht mehr alle Äste weiterhin in meinem
Lebensraum mit mir tragen. Du bist nun schon groß und schwer und
deswegen musst Du leider gehen. Ich wünsche Dir alles Gute auf
Deinem Weg.“
Der Ast begriff nicht, was der Baum ihm
damit sagen wollte. Doch noch bevor er sich die Worte durch den Kopf
gehen ließ, merkte er, wie sich etwas in ihm löste und er sich mit
einem schweren Schlag auf dem Boden im Gras wiederfand.
Als er sich von dem ersten Aufprall
erholt hatte, wuchs plötzlich in ihm die Idee, selbst ein Baum
werden zu können. Er malte sich die tollsten Geschichten aus, wie
die Menschen unter ihm picknikten, sich mit ihm fotografierten, die
Tiere sich an seinen Blättern und Knospen labten und ihn
anschließend als Schlafplatz wählten – ach, es wäre einfach
wunderbar.
Bald musste er jedoch feststellen, dass
die Tage vergingen, die Wochen, die Monate und aus ihm immer noch
kein Baum geworden war. Niemand beachtete ihn, im Gegenteil: manche
Menschen traten auf ihn und brachen die kleinen Zweige an ihm ab. Er
fühlte sich unendlich enttäuscht und einsam. Je mehr Tage
vergingen, umso mehr verlor er die Hoffnung auf das eigene Leben, das
er sich so sehnlichst gewünscht hatte.
Eines sonnigen Tages kam ein älterer
Herr des Weges. Gemächlich, in Gedanken versunken, sich die
Landschaft betrachtend. Sein Blick fiel auf diesen seltsamen Ast, der
am Boden lag. Als ob etwas seinen Blick lenken würde – er konnte
einfach nicht weitergehen. Der Ast hatte etwas wie eine Ausstrahlung
und ein ganz besonderes Äußeres. Die geriffelte Rinde und der
leichte Moosansatz darauf ließen den älteren Herren nicht mehr los
und eine Idee wuchs in dessen Kopf. Noch ehe der Mann es selbst
begriff, hatte er den Ast schon vom Boden aufgehoben und lief in nun
doch etwas zügigerem Schritt nach Hause. Dort angekommen lief er
schnurstracks in seine Werkstatt. Dort verbrachte er die nächsten
Stunden mit dem Ast und als er wieder herauskam hatte er etwas
geschaffen. Doch er hatte keine Ahnung, was er da geschaffen hatte.
Für ihn waren es nette Stücke mit besonderem Charme. „Dekoartikel“
wie man heutzutage sagt. Etwas, was man verschenkt, vielleicht sogar
verkaufen könnte.
Für den Ast allerdings hatte er ein
neues Leben geschaffen. Etwas, was dieser nie zu träumen gewagt
hätte. Er hatte eine neue Form und eine neue Bestimmung bekommen. Er
bekam jetzt die Aufmerksamkeit, die er sich schon so lange gewünscht
hatte.
Und noch etwas hatte dieser Künstler
vollbracht. Nämlich die unbändige Freude der Beschenkten, der
manchmal alles über den Kopf wächst und für die dank dieser
kleinen Schätze der Tag zu etwas ganz Besonderem wurde.
Vielen Dank liebe A. Und Deinem Papa!
herzallgäuerliebste Grüße
Carmen